B. Nicolai u.a. (Hrsg.): Das Berner Münster

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Titel
Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert: von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421 – 1517 / 1528


Herausgeber
Nicolai, Bernd; Schweizer, Jürg
Erschienen
Stuttgart 2019: Schnell & Steiner
Anzahl Seiten
647 S.
von
Enrico Natale, Infoclio.ch Fachportal für Geschichtewissenschaft in der Schweiz, Schweizeriche Academie für Geistes- und Sozialwissentschaft.; Elias Flatscher

Das Berner Münster St. Vinzenz ist eine der bedeutendsten spätgotischen Stadtkirchen (S. 343) und «die grösste und wichtigste spätmittelalterliche Kirche der Schweiz» (Klappentext). Es ist zugleich Symbol bernischer Selbstrepräsentation und Loslösung von der Deutschordenskommende in Köniz (S. 61 – 65; 85), Demonstration der bernischen Reichszugehörigkeit auf mehreren Ebenen (S. 54 – 56; 252; 343; 376; 451; 551; 605) und «Höhepunkt einer Reihe von Massnahmen, die den Staat Bern erst hervorbringen sollten» (S. 371). Viele Befunde sind im Hinblick auf Ausstattungsqualität und Erhaltung der Originalsubstanz singulär. Hier sind insbesondere die Heiligenbüsten der Schlusssteine und ihre polychrome Farbfassung (S. 489 – 493; 505 – 533) sowie die Glasfenster (S. 372 – 431) hervorzuheben, Gleiches gilt auch für das Glockenensemble (S. 586 – 597) und die weitgehende Einzigartigkeit bestimmter architektonischer beziehungsweise kompositioneller Lösungen, etwa bei der Westfassade (S. 599).

Wie die beiden Herausgeber bereits im Vorwort schreiben, fügt sich der Band in die Reihe der in den letzten Jahrzehnten erschienenen, zum Teil mehrbändigen Werke zu bedeutenden Kirchenbauten ein, ohne dass jedoch eine «inventarmässige Erschliessung angestrebt» wird (S. 9). Zwar werden in dem Band «nur» die knapp beziehungsweise gut 100 Jahre von der Grundsteinlegung 1421 bis zur Chorvollendung 1517 respektive zum sogenannten Bildersturm – quellenkonform ausgedrückt: dem «Abtun der Bilder» (S. 554) – in Bern im Jahr 1528 schwerpunktmässig thematisiert (ein Folgeband ist angekündigt); dennoch kommen die Autoren und Autorinnen nicht umhin, die Umbauten und die Restaurierungsgeschichte zumindest kurz zu thematisieren. Auch wenn der Innenraum von Restaurierungsmassnahmen weitgehend verschont geblieben ist (S. 494 – 542), sind die Dachwerke teilweise jünger (S. 208 – 217; 323) und wurden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts umfangreiche Steinaustauschungen an den Münsterfassaden vorgenommen (S. 15 – 36; Tafel 1 S. 146 – 147). Inzwischen hat ein konservatorischer Paradigmenwechsel dahin stattgefunden, dass die Originalsubstanz als Primärquelle (S. 15 – 21; 25 – 34) erhalten wird und «Prozesse nicht getilgt, sondern als Zeitzeugnisse bewahrt» (S. 540) werden.

Eine Besprechung sämtlicher Beiträge des hochkarätigen Autorenfelds ist an dieser Stelle leider nicht möglich; hervorzuheben ist aber die starke Präsenz von Alexandra Drudzynski von Boetticher und Peter Völkle, die jeweils drei Beiträge sowie einen gemeinsamen Beitrag beigesteuert haben und die Themenkreise Architekturgeschichte / Bauforschung beziehungsweise Steinbearbeitung im Band abdecken. Mehrfach hervorgehoben wird in den architekturhistorischen und primär auf die Bauplastik ausgerichteten Beiträgen die Bedeutung sowie das erweiterte Forschungspotenzial der Komplettaufnahme des Bauwerks durch dreidimensionale Fotogrammetrie, die nicht nur eine verzerrungsfreie Grundlage für steingerechte Pläne liefert (S. 14 – 16), sondern zum Teil auch «Einblicke wie nie zuvor» in ansonsten nicht zugängliche Bereiche gewährt (S. 452f.). Diese bilden auch das Grundgerüst für die zahlreichen, mehrheitlich als Weissmodelle ausgeführten Visualisierungen (siehe dazu S. 218 – 229) einzelner Bauphasen beziehungsweise nie faktisch realisierter Bauintentionen, die jedoch im Befund ablesbar sind.

Kleinere Unstimmigkeiten im Werk sind allenfalls im Layout auszumachen, etwa ein etwas unorthodox anmutender Umbruch einer Überschrift am Spaltenende (S. 530). Relativ schwer auffindbar sind beim Lesen die mit Grossbuchstaben nummerierten mehrheitlich ganzseitigen Bilder, die zwischen den Beiträgen in das Buch eingestreut sind; hier wären vielleicht Seitenverweise angebracht gewesen. Häufig verwiesen wird auch auf die Nummerierung einzelner Joche, die sich aber nicht auf dem Faltplan des Grundrisses wiederfinden. Die zweimal (S. 36; 146 f.) abgedruckte Grafik der Tafel 1 zur Verortung sowie die seitenübergreifenden Phasenpläne auf den Tafeln 2 – 7 (S. 148 – 157) wären als Faltpläne vielleicht ebenfalls leichter auffindbar gewesen, im letzteren Fall hätte man damit auch das Problem des Falzes umgehen können. Diese Schwierigkeiten könnten aber gegebenenfalls durch eine digitale Version des Werks ohne Weiteres ausgeräumt werden.

Der Band verwebt Architekturgeschichte, Kunstgeschichte, Bautechnik, Restaurierung, internationale historische Verknüpfungen und einen Hauch von Archäologie transdisziplinär zu einem ausserordentlich dichten und bildgewaltigen Ganzen und setzt das Berner Münster in den Kontext städtischer Repräsentation an Stadt- und Reichskirchen (wobei insbesondere die Parallelen zwischen Bern und Ulm sehr stark ausgeprägt sind), der Wechselbeziehungen zwischen den «Stararchitekten»-Dynastien (S. 234; 259) Ensinger und Parler sowie der Abläufe auf einer Grossbaustelle im aus gehenden Mittelalter. Minutiöse Beschreibungen von Baudetails, aber auch Erläuterungen der Forschungsabläufe sind in ungewöhnlich hohem Masse direkt in den Text eingeflossen. Gerade die reichhaltigen Bezüge in die wissenschaftliche und handwerkliche Praxis tragen zusammen mit dem Abbildungsreichtum und den zahlreichen Zitaten aus Primärquellen dazu bei, den Band nicht nur informativ, sondern auch belebt zu gestalten. Dies macht ihn einerseits zur Pflichtlektüre für das Fachpublikum, nicht weniger interessant sein dürfte er aber für Studierende der einschlägigen Fachrichtungen, Touristenführer und interessierte Bernerinnen auf der Suche nach einem tieferen Einblick in die Forschung – im Bedarfsfall vielleicht mit einem Architekturlexikon zur Hand. Wie die meisten Sammelbände zu wichtigen Bauten und Baukomplexen ist auch der Berner Münsterband eher ein Werk, das sich zum punktuellen Konsultieren als zum Lesen in einem Zug eignet, jedoch ist auch Letzteres aufgrund der Vielfältigkeit des Bands durchaus möglich. Fast ist man versucht, das im Werk mehrfach verwendete, von Konrad Justinger um 1420 im Vorfeld des Münsterbaus geäusserte Zitat «Got ist ze Bern burger worden» (S. 371; 403) zu einem Wortspiel mit «Buch» umzuwandeln.

Zitierweise:
Elias Flatscher: Rezension zu: Bernd Nicolai, Jürg Schweizer (Hrsg.): Das Berner Münster. Das erste Jahrhundert: von der Grundsteinlegung bis zur Chorvollendung und Reformation (1421 – 1517 / 1528). Stuttgart: Schnell & Steiner 2019. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 67-69.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 67-69.

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